wenn der mond verschwindet

Psychologie-Blog, Psychotherapie Olten
foto: andrea bütikofer, basel - basler münster

„Ich dachte, wenn eines Tages der Mond verschwände, dann würde sich das Meer zurückziehen,

damit man es nicht weinen sieht.“ Leiris, 2016, 66

Grosse, weite Sonnenblumenfelder leuchten mir auf der Fahrt im Zug zwischen Thun und Bern entgegen. Sonnenblumen erinnern mich auch an Beerdigungen, ich weiss nicht genau, warum. Sterben und Trauern – eigentlich keine Sommerthemen. Themen aber auch, die nie passen. Und dennoch wollte ich darüber schreiben, bereits im Juni. Aber dann war ich so wunderbar von dem Römischen Licht und der Wärme eingehüllt, dass ich in der Zeit, die mir zur Verfügung stand, nur Gelati und das Dolcefarniente geniessen wollte. 

Auf die Themen Sterben und Trauern kam ich durch das Buch von Antoine Leiris „Meinen Hass bekommt ihr nicht“*. Bereits der Titel berührte mich, als ich das Buch in der Buchhandlung Schreiber in Olten gesehen hatte, und die darauf folgenden Seiten ebenso.

Ein Mann verliert im vergangenen November durch den Terroranschlag im Bataclan in Paris die Liebe seines Lebens und die Mutter seines fast 1 ½ -jährigen Sohnes. Er schreibt in der Folge einen Brief an die Terroristen, in dem er ihnen erzählt, was für einen Menschen sie ihm genommen haben. Und dass er trotzdem nicht bereit ist, sie dafür zu hassen. Ich bin berührt von der Stärke dieser Worte, dieser Haltung!

Wie viel einfacher wäre es, diese Menschen zu hassen. Antoine Leiris bedient sich der Metapher einer halb offenen Türe: „Natürlich, wenn man einen Schuldigen zur Hand hat, jemanden, auf den man seinen Zorn richten kann, dann ist das wie eine halb offene Tür, eine Möglichkeit, seinem Leid auszuweichen. Und je abscheulicher das Verbrechen, desto idealer der Schuldige, desto legitimer der Hass. Man denkt an den Schuldigen, um nicht mehr an sich selbst denken zu müssen, man verabscheut ihn, um nicht sein eigenes Leben zu hassen, man freut sich über seinen Tod, um nicht mehr denjenigen zulächeln zu müssen, die noch übrig sind.“ (Leiris, 2016, 35f.)

Er beschreibt in meinen Augen sehr gut, wie viel einfacher es wäre, durch die halb offene Türe zu gehen, als sich der Trauer zu stellen, dem Verlust des geliebten Menschen, dem Schmerz, der täglich in ihm brennt.

Hass und Wut sind oftmals Gefühle, die uns helfen, uns von darunter liegenden schmerzhaften Gefühlen abzulenken. Hass und Wut aktivieren, treiben uns an, mobilisieren Kräfte in uns. Damit erlauben sie uns auch, in eine aktive Rolle zu kommen und die Kontrolle wiederzugewinnen, die wir vielleicht durch einen Schicksalsschlag verloren haben. Gefühle hingegen von Trauer und Verlust lösen eher Ohnmacht und Hilflosigkeit aus. Auch deshalb habe ich Respekt vor Leiris’ Entscheidung, nicht durch diese halb offene Tür zu gehen, sondern sich dem Schmerz zu stellen.

Ich bin auch berührt von der Liebesgeschichte zwischen Antoine und Hélène. Sie sei die Frau seiner Träume gewesen. „Hélène war ma lune, mein Mond. Eine Brünette mit einer Haut wie Schnee, Augen, mit denen sie ein bisschen so aussah wie eine aufgeschreckte Eule, und einem Lächeln, das die ganze Welt umfing.“ (ebd., 46) Was für ein Glück. Und die Erzählung ihrer Liebesgeschichte klingt, als ob sie sich ihres Glücks bewusst waren, sie ihre Tage gelebt haben, die Momente ausgekostet, als ob sie wussten, dass es nicht für immer ist.

Hélène, die Mutter, hat ihrem Söhnchen schon vor seiner Ankunft auf der Welt Musik zusammengestellt, die ihn ins Leben begleiten sollte. Als ob sie ahnte, er würde deren Kraft auch später brauchen, wenn sie in ihrer physischen Gestalt nicht mehr für ihn da sein konnte. „... N’oublie pas cette musique... que je t’ai donné un jour... avec tout mon amour...“ (ebd., 29). Auch davon bin ich berührt.

Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, ich möchte mich nur ungern damit auseinandersetzen, was wäre, wenn ein geliebter Mensch nicht mehr ist oder ich selbst von dieser Erde muss. Diese Auseinandersetzung macht mich traurig und dennoch möchte ich sie führen, solange ich noch atmen und lieben kann.

Ich wünsche mir und meinen Liebsten, das Leben zu leben, im Bewusstsein, dass es nicht für immer ist und jederzeit zu Ende sein kann. Dass wir gemeinsam Momente leben und in uns tragen, „schönste Momente unseres Lebens (...), die man (nicht) in Fotoalben klebt. (...) völlig unbedeutende Momente, an denen es nichts zu zeigen, zu denen es nichts zu erzählten gibt (...) (ebd., 46f.). Momente, die uns reich sein und weiterleben lassen, wenn wir unseren Weg ohne einen geliebten Menschen weitergehen müssen. Und ich möchte den Menschen, die ich am liebsten liebe, eine  Musik hinterlassen, die sie durchs Leben trägt, wenn ich mal nicht mehr bin.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen bewusste Momente des Seins und der Liebe!

           

Mit herzlichen Grüssen

                 Andrea Bütikofer

* vollständige Literaturangabe: Leiris, A. (2016). Meinen Hass bekommt ihr nicht. München: Blanvalet.

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