leitwolf sein - über neugier und vertrauen

Psychologie-Blog, Psychotherapie Olten
foto: georg sander, wölfe, flickr

Erneut aufmerksam wurde ich auf Jesper Juul durch eine Freundin. Ihr gefiel sein Buch Grenzen, Nähe, Respekt. Ich hatte bereits das Buch Aggression von ihm gelesen. Was er über negative Emotionen im Allgemeinen und Aggression im Speziellen schreibt, hat mir inhaltlich gut gefallen. Seine Sprache jedoch fand ich teilweise etwas polemisch und die Inhalte zum Teil allzu sehr vereinfacht. Deshalb habe ich mich nicht sofort wieder mit ihm befasst.

Dann an einem Nachmittag, die Kinder waren mit Freundinnen unterwegs, und ich wusste nicht so recht, was mit mir anfangen – ja, das kommt vor ;) –, habe ich mir von Jesper Juul einige Videos auf Youtube angeschaut. Es waren Interviews mit ihm oder Vorträge, die er gehalten hatte. Ich war erstaunt, in diesen Aufnahmen kam er mir gar nicht so polemisch rüber. Seine Positionen waren sehr dezidiert – er ist überzeugt von dem, was er sagt und denkt. Und gleichzeitig nehme ich in seiner kritischen Haltung gegenüber Erziehung und Erziehungspersonen doch etwas Wohlwollendes, Weises wahr. Er wirkt auf mich wie ein Kämpfer für eine Sache, für die Anliegen der Kinder und Jugendlichen. Sein Kampf gilt dabei ganz und gar der Sache und nicht der Selbstdarstellung. So wirkte es auf mich.

Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, wieder mal etwas von Jesper Juul zu lesen bzw. mir anzuhören. In der Stadtbibliothek Olten habe ich mir dann das Hörbuch Leitwolf sein ausgeliehen. Darin gibt es einige Punkte, die ich sehr inspirierend und wichtig finde, sowohl als Mutter als auch als Psychologin und Psychotherapeutin. Zwei Punkte möchte ich in diesem Beitrag herausgreifen: Der eine Punkt ist das Feedback, das uns unsere Kinder geben, der andere Punkt ist das Vertrauen, das wir ihnen entgegen bringen.

Juul versteht das Zusammenleben mit Kindern als gegenseitiges Lernen, wie das bei Säuglingen oft noch sehr selbstverständlich ist. Eltern sind neugierig, ihr Kind kennenzulernen, zu verstehen, was z.B. sein Weinen bedeuten mag, warum es sich unruhig im Stubenwagen hin-  und herbewegt. Dem Feedback, das unser Kind uns entgegen bringt (z.B. sein Weinen, seine Bewegungen), begegnen wir mit Neugier. Wir wollen verstehen, was das Kind uns mitteilen, zeigen will, wir wollen das Kind verstehen und kennenlernen. Diese Neugier, meint  Juul, geht schon nach einem Jahr teilweise verloren und spätestens, wenn das Kind zwei Jahre alt ist, hätten wir ein Bild davon, wie das Kind ist und zu sein hat. Er beschreibt sehr eindrücklich, wie wir Eltern sehr leicht vom Lernen ins Lehren und vom blossen Vergnügen am Kind an sich, zum „Kind als Projekt“ gelangen können.

Und ich frage mich, inwiefern das nicht auch in Beziehungen unter Erwachsenen so ist. Wenn wir uns kennenlernen, versuchen wir zu verstehen, wie der andere tickt, wir sind interessiert daran zu erfahren, was er mag oder nicht mag. Und irgendwann haben wir ein Bild davon, wie er ist und – manchmal auch – wie er zu sein hat. Damit geben wir unserem Gegenüber keine Chance mehr, sich anders zu verhalten, mal ganz anders zu sein. Und damit letztlich wahrscheinlich auch uns selbst nicht. Denn wir wissen, wenn ich dies mache, dann macht der andere das, wenn ich dies nicht tue, dann macht er jenes. Wir berauben uns damit auch selbst der Möglichkeit, uns immer wieder neu zu entscheiden, wie wir uns verhalten, wie wir reagieren möchten. Wir nehmen uns die Chance, aus dem Default-Modus auszusteigen. 

Umgekehrt könnte das bedeuten: Wenn wir uns die Möglichkeit geben, dem Gegenüber, sei das unserem Kind, dem Partner oder der Freundin mit Neugier zu begegnen, sein Feedback – in welcher Form auch immer dieses daherkommt – verstehen zu wollen. Verstehen zu wollen, warum er oder sie jetzt so reagiert hat. Ohne gleich darauf zu reagieren – und ohne gar immer ähnlich darauf zu reagieren. Damit geben wir auch uns selbst die Chance, uns mit Neugier zu begegnen. Damit können sich für uns die Möglichkeiten wieder öffnen, wie wir reagieren dürfen.

Kinder – und auch Erwachsene – versuchen, ihre persönliche Integrität und Würde zu schützen. Da stimme ich Jesper Juul voll und ganz zu. Und was wir Menschen an Verhalten zeigen, auch oder gerade Verhalten, das in den Augen anderer unerwünscht ist, hat oft genau diese Funktion: Wir versuchen unsere persönliche Integrität zu schützen oder wieder herzustellen, wenn wir meinen, diese verloren zu haben. Und damit komme ich zum zweiten Punkt, dem Vertrauen, das Jesper Juul anspricht.

Er lädt die Lesenden ein, ein Gedankenexperiment zu machen: Wir sollten uns einen Moment vorstellen, wir würden mit zwei Personen zusammenleben, die uns lieben, denen wir vertrauen und von denen unser Überleben und unsere geistige Gesundheit abhängt. Dann sollten wir uns vorstellen, dass diese Menschen niemals unseren guten Absichten vertrauen, sondern uns ständig negative Absichten unterstellen. Können Sie sich das vorstellen? Wie ist das für Sie?

Sein Fazit ist eindeutig: Gesunde Erwachsene würden wahnsinnig oder gewalttätig. Kinder verlieren das Gefühl, wertvoll zu sein. Deshalb braucht es in seinen Augen die bedingungslose Botschaft:

"Ich vertraue dir, dass du dein Bestmögliches tust, um zu kooperieren und für die Familie von Wert zu sein. Und sollte es mir nicht gelingen, das in deinem Verhalten zu erkennen, so werde ich dich um Hilfe und Klärung bitten" (vgl. Juul, 2015).

Was für eine Botschaft! Würde uns diese nicht auch als Erwachsene, als Mutter oder Vater, als Arbeitnehmerin oder Freund gut tun? Doch. Aber für Juul – und mich im Übrigen auch – ist klar, wir Erwachsenen sind für die Beziehung zu unseren Kindern verantwortlich. Deshalb sind wir dafür verantwortlich, ihnen, unseren Kindern, dieses Vertrauen entgegen zu bringen. Und ich frage mich, was verändert sich in der Beziehung zu meinem Kind, wenn es mir gelingt, dieses Vertrauen bedingungslos anzubieten? Was verändert sich, wenn ich mein Kind um Hilfe und Klärung bitte, wenn es mir nicht einfach so gelingt, ihm Vertrauen entgegenzubringen? Was verändert sich zwischen uns, was verändert sich bei mir, was verändert sich in unserer Familie?

Eines ist klar, ich muss langsamer werden und den Modus von Autopilot zu „manuell“ wechseln. Ich darf mir erlauben, in Ruhe wahrzunehmen, zu verstehen und wenn ich nicht verstehe, mein Gegenüber um Klärung und Hilfe zu bitten. Bis dahin im Prozess brauche ich noch gar nicht zu reagieren. Ich kann und darf mich lediglich um das Verstehen kümmern.

Dieses Vertrauen – mit der Möglichkeit um Klärung und Hilfe zu bitten – empfiehlt Juul übrigens auch anderen Erziehungspersonen (z.B. Lehrpersonen), die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Dazu gibt es einige interessante Videos auf Youtube (vgl. z.B. Das lernende Dreieck, über die Beziehung zwischen Kind – Eltern –Lehrperson).

Und zum Schluss noch eine Nachricht, die Sie motivieren soll, mit Neugier und Vertrauen in den Beziehungen zu den Menschen, die Sie lieben, zu experimentieren: Jesper Juul meint, dass allerbeste Eltern täglich 20 Fehler machen. Wenn unser persönlicher Durchschnitt nicht über 30 Fehlern pro Tag liege, sollen wir locker bleiben, uns selbst vergeben und uns selbst zu unseren Fehlern bekennen. So würden wir nicht nur vermeiden, uns schuldig zu fühlen, sondern für unsere Kinder auch ein gutes Vorbild sein (vgl. Juul, 2015)!

Viel Freude beim Experimentieren mit Neugier und Vertrauen! Beobachten Sie, wie es Ihnen damit ergeht, was sich verändert.

Mit herzlichen Grüssen

Andrea Bütikofer

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